Public Viewing: Die Fußball-WM in Münster (Teil 8)
Einige Kneipen habe ich auf meiner Rundreise durch Münster in den letzten Wochen besucht, immer mit dem festen Vorsatz, neues Futter für die Serie „Die Fußball-WM in Münster“ zu ergattern. Der heutige achte Teil dreht sich allerdings ausnahmsweise nicht um eine Gaststätte mit groß angelegtem „Public Viewing“. Und um ganz ehrlich zu sein: Bis zum vergangenen Samstag wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, mir in einer derartigen Lokalität ein Spiel anzusehen. Um ganz genau zu sein war es noch nicht einmal ein ganzes Spiel, sondern lediglich die Verlängerung des Achtelfinals Argentinien vs. Mexiko. Na, habe ich dich jetzt schon ordentlich neugierig gemacht – dann geht es jetzt los!
Name: Das x-beliebige Büdchen an der Ecke
Adresse: in Münster keine 200 Meter von deiner Haustür entfernt
Internet-Infos: hier
Öffnungszeiten: selbst an Heiligabend um 20 Uhr geöffnet
Nach dem deutschen Sieg gegen Schweden stand am vergangenen Samstag ja noch ein zweites Spiel im Achtelfinale an, bei dem sogar der Gegner der deutschen Nationalmannschaft ermittelt wurde. Eigentlich höchst interessant – leider war der Kick Argentinien vs. Mexiko über weite Strecken unerträglich langweilig. Und so entschloss ich mich, gemütlich aus der Innenstadt nach Hause zu radeln. Auf diesem Weg kam ich an einem der unzähligen „Büdchen“, „Kioske“ oder „Trinkhallen“ vorbei, die es in Münster an jeder zweiten Ecke gibt. Ich stoppte kurz um mich noch schnell mit ein paar Waren einzudecken. Da sah ich sie: Die unverzagten Fußballfans Münsters, die sich nicht durch eine Großbildleinwand ködern lassen, denen ein Fernseher genau so viel wert ist, die auf Ambiente und Stadionfeeling verzichten können so lange das Bier nur kalt genug ist und man den persischen „Wirt“ mit Anekdoten vom letzten Türkeiurlaub zudonnern kann. „Ist ja eh alles dasselbe, da unten.“
Da stand ich und war hin- und hergerissen. Nach Hause und die letzten Minuten der Verlängerung auf dem Sofa kucken oder doch bleiben, um diese zugegebenermaßen sehr ungewöhnliche Public-Viewing-Möglichkeit zu testen. Normalerweise hätte ich gesagt: „Was kostet die Welt?“ Da ich aber keine Springer-Presse lese fragte ich kurzum „Was kostet ein Bier?“, bezahlte meine 95 Cent artig an der Kasse, schnappte mir einen freien Gartenstuhl und ließ mich auf dem Gehsteig vor dem Büdchen nieder. Optimaler Blick auf den mittelgroßen Fernseher.
Und dann kam es zu einem Phänomen, das ich auch im Stadion sehr schätze. OK, man sitzt gegen 23.00 Uhr in einer lauen Sommernacht auf dem Gehsteig vor einem Büdchen und trinkt eine 0,3er-Flasche Bier. Neben einem verputzt ein anderer Gast gerade die Reste seiner vom Bringdienst gelieferten Pizza, ein anderer schmeißt eine Runde Chips, die er Sekunden vorher in der Lokalität für kleines Geld erworben hat. Und ein Dritter, offensichtlich ein Nachbar der vor dem Büdchen gegrillt hat, verscherbelt seine letzten Bratwürstchen zum Selbstkostenpreis an Passanten. Da ist es doch klar, dass man nicht über Kants kategorischen Imperativ diskutiert. Man setzt sich hin und kuckt Fußball! Nicht mehr und nicht weniger. So einfach ist das.
Verstehe mich nicht falsch. Ich empfinde die Erfindung der menschlichen Sprache als fast genau so wichtig wie Marc Wilmots‘ Elfmeter 1997 in Mailand. Zu deutsch: Ich rede (sehr) viel und gerne. Aber manchmal ist es entspannend, wenn man sich ohne zu fragen „Ist hier noch frei?“ neben wildfremde Leute setzen und einfach mal abschalten kann. Glaub‘ du mal nicht, dass wir vier da wortlos gesessen hätten – es ging bei den diversen Spielszenen hoch her, aber es war eine andere Art der Kommunikation. Kein ständiges darauf bedacht sein, was der Nebenmann nun von einem denken könnte. Im Zweifel denkt er nämlich nur: „Mensch, da sitzt einer vor dem Büdchen und kuckt Fußball, ups, ich ja auch…“.
20 Minuten dauerte mein Büdchen-Fußball-Erlebnis. Dann war Abpfiff, man stand auf, wünschte sich einen schönen Abend und ein „bis bald“ – wohlwissend, dass es dieses „bis bald“ in dieser Form niemals geben wird.
Nein, ich werde sicherlich nicht morgen gezielt das Büdchen ansteuern und mir das Spiel der Klinsmannschaft gegen Argentinien dort anschauen. Und ich werde auch auf dem Nachhauseweg nicht erneut dort einkehren. Momente wie der am vergangenen Samstag lassen sich nicht beliebig reproduzieren und wer es dennoch versucht, der scheitert zwangsläufig. Irgendwie war es schön, irgendwie gehörte es zu dieser bislang so friedlichen und besonderen WM 2006.
Wer hätte gedacht, dass mich Münster nach nunmehr 13 Jahren noch einmal überraschen kann?
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