Die Geburtsstunde von Deutschlands Nummer 1
Es war am 16. Oktober 1993, als ich live im Stadion der Geburtsstunde von Deutschlands Nummer 1 beiwohnen durfte. Natürlich wusste ich das damals noch nicht. Es wusste niemand. Und wer am Abend dieses 16. Oktober behauptet hätte, er habe einen der besten Torhüter gesehen, den der deutsche Fußball jemals hervorbringen wird, wäre bitterlich ausgelacht worden. Am 16. Oktober 1993 verlor der FC Schalke 04 bei Bayer Leverkusen mit 5:1. Zwischen der 20. und der 27. Minute kassierte der Schalker Torhüter drei sehr unglückliche Tore, an denen er nicht schuldlos war. Die mitgereisten Schalker Fans pfiffen, sein Trainer Jörg Berger reagierte und wechselte den damals 23-Jährigen zur Halbzeit aus. Der Ersatzmann kassierte noch einmal zwei Treffer und war daran ebenfalls nicht ganz schuldlos. Das aber bekam der junge Torhüter nicht mehr mit. Die Legende berichtet, er sei direkt aus der Kabine noch in der Halbzeit mit der Straßenbahn nach Hause gefahren. Ich bezweifele jedoch, dass die BOGESTRA-Linie 302 tatsächlich von Gelsenkirchen bis nach Leverkusen führt. Der junge Torhüter von damals war Jens Lehmann.
Jens Lehmanns Karriere begann im Schatten von Werner Vollack. In der Zweitliga-Saison 1988/1989 war es dem jungen Schlussmann erstmals gelungen, den erfahrenen Vollack, der erst kurz zuvor vom FC Homburg gekommen war, für fast eine halbe Saison zu ersetzen. Dennoch stand in der Nachfolgesaison zunächst wieder der „alte Hase“ im Schalker Kasten. Bis zum 10. Spieltag im September 1989. Schalke gewann 2:1 gegen Bayreuth und Jens Lehmann stand im Tor. Danach war er ohne Zweifel die Nummer 1. Vollack verließ den Verein und machte sich auf’s Altenteil. Der neue zweite Torhüter Jürgen Welp war keine wirkliche Bedrohung. Lehmann etablierte sich.
In der Saison 1991/1992 – Schalke war gerade wieder in die erste Bundesliga aufgestiegen – absolvierte Jens Lehmann 36 von 38 Ligaspielen (durch die Wiedervereinigung spielten damals kurzfristig 20 Mannschaften in der Bundesliga). Im Folgejahr stand er bis zum 8. Spieltag ununterbrochen zwischen den Pfosten. Dann stand ein Auswärtsspiel in Leverkusen an und Schalke unterlag mit 6:1. Jens Lehmann verletzte sich beim Stand von 3:1 schwer und musste – das Wechselkontingent war bereits aufgebraucht – durch Mike Büskens ersetzt werden. Es sollte fast ein ganzes Jahr dauern, bis Jens Lehmann wieder das Schalker Tor hütete. Am 6. Spieltag 1993/94 war es so weit. Schalke unterlag Eintracht Frankfurt mit 1:3, doch Lehmann war wieder in der Bundesliga angekommen. Ein kurzes Glück. Bereits wenige Spieltage später musste er wieder für den damals ebenbürtigen Holger Gehrke Platz machen. Lehmann oder Gehrke? Gehrke oder Lehmann? Dieses Rennen schien damals völlig offen.
Zum Ende der Spielzeit hatte sich Jens Lehmann trotzdem wieder durchgesetzt. Nun war er wieder die unumstrittene Nummer 1 im königsblauen Tor. Bis zu jenem 16. Oktober 1993, dem 5:1 von Leverkusen und der Legende mit der Straßenbahn. Nicht wenige waren sich damals sicher: Der kommt nie wieder!
Es sollte dennoch nur acht Spieltage dauern, bis Jens Lehmann eine neue Chance erhielt. Am 16. Februar 1994 stand er bei 1:1 gegen den 1. FC Köln wieder im Tor. Er hatte sich gegen Holger Gehrke endgültig durchgesetzt. In der kommenden Saison stellte ihm das Management mit Jörg Albracht einen zweiten Mann zur Seite, der wirklich keine echte Konkurrenz war. Albracht spielte nur, wenn Lehmann nicht spielen konnte oder aufgrund einer Sperre nicht durfte. Nur kurz darauf qualifizierte sich Schalke – auch dank herausragender Leistungen seines Keepers – für den UEFA-Cup und gewann im ersten Anlauf nach rund zwei Jahrzehnten den Cup. Am 21. Mai 1997 wurde Jens Lehmann zum Elfmeterheld von San Siro. Neun Jahre später errang er mit der Nationalmannschaft den sensationellen 3. Platz bei der WM.
Jens Lehmann wurde erst zu dem, was er heute ist, nachdem er gleich mehrmals seine Karriere neu starten musste. Er weiß, dass eine Versetzung auf die Bank nicht das Ende einer großen Karriere sein muss sondern – ganz im Gegenteil – sogar die Möglichkeit zu reifen und stärker denn je wieder anzugreifen. Vielleicht ist er genau deshalb in der aktuellen Situation bei Arsenal London nicht in Panik verfallen, sondern nimmt die neue Herausforderung an. Vielleicht war es sogar das große Glück in Jens Lehmanns Karriere, dass er bei seiner ersten Profistation einen Trainer hatte, der ihn im richtigen Moment auf die Bank setzte, um ihn neu zu kitzeln, und mit Holger Gehrke eine Nummer 2 im Nacken, die ebenfalls über eine gewisse Klasse verfügte. Ich weiß es nicht – ich vermute es nur. Einzig Jens Lehmann wird es wirklich wissen.
Jens Lehmann hat einen großen Fan. Sein Name ist Manuel Neuer und er ist zweifelsohne eines der größten Torwarttalente des Landes. Neuer sagt selbst, Lehmann sei sein großes Idol.
Manuel Neuer hat eine Pause verdient. Nicht um ihn für etwaige Patzer zu bestrafen, sondern um ihn die Chance zu geben, eine ähnliche Entwicklung zu nehmen, wie Jens Lehmann es einst tat. Neuers Nummer 2, Mathias Schober, verfügt zweifelsohne über eine gewisse Klasse, kann ihn in der derzeitigen Form jederzeit ersetzen, steht aber im Herbst seiner Karriere. Schober ist keine echte Gefahr – genauso wenig wie es letztendlich Gehrke damals bei Lehmann war. So oder so wird Manuel Neuer in zwei, drei Jahren auf Schalke die klare Nummer 1 sein. Die Frage ist nur, ob er dann der beste deutsche Torhüter sein wird. Das Potenzial dazu hat er. Die Entwicklung bis dahin muss er erst noch durchlaufen. Ich gönne und wünsche es ihm, auch wenn das bedeutet, dass er jetzt besser den einen Schritt zurückmachen sollte. Es würde ihm gut tun.
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