Rezension: „11Freunde-Spezial: You’ll never walk alone“
Von allen intelligenten Lebewesen auf der Welt ist der moderne Mensch mit Abstand das Dümmste. Oder zumindest das Widersprüchlichste. Er sehnt sich nach stetigem Fortschritt, doch kaum hat er diesen erreicht, wandern seine Gedanken reumütig zurück. Kaum hatte der moderne Mensch das Mobiltelefon erfunden, trauerte er der Zeit nach, in der man sich an Verabredungen noch gehalten und nicht zwei Minuten vorher per SMS abgesagt hat. Kaum hatte er es geschafft, tragbare Tonabspielgeräte von der Größe eines Backsteins auf die Größe eines kleinen Streichholzbriefchens zu reduzieren, stülpt er sich Kopfhörer in der Größe eines Pfunds Butter pro Ohrmuschel auf den Kopf. Und kaum hat er sich sein Fußballstadion etwas schöner hergerichtet und schaut Spiele zusammen mit 50.000 Zuschauern im Trockenen anstatt mit 11.000 bei Dauerregen, schon sehnt er sich nach den Freuden einer Lungenentzündung nach einem herbstlichen Heimspiel zurück. Einer gewissen „Früher war alles besser, idealistischer, echter“-Mentalität kann sich wohl kein Fußballfreund entziehen, selbst wenn er das „Früher“ Dank später Geburt gar nicht erlebt hat. Gerade dann sogar. Das nun erhältliche 11Freunde-Spezial „You’ll never walk alone – Die Geschichte der Fußballfans“ ist der Papier gewordene, romantisierende Rückblick auf die gute alte Zeit.
Nachdem die Redaktion der 11Freunde in den letzten zwei Jahren die einzelnen Jahrzehnte des deutschen Fußballs erfolgreich in Spezial-Ausgaben abgearbeitet hat, musste nun ein neues Thema her. Dass die Wahl auf die Entwicklung des Fantums fiel, überrascht den geübten Leser des Magazins kaum. Schließlich nimmt das Thema bereits in den regulären Ausgaben breiten Raum ein und – zumindest im Unterton – sehen sich die Redakteure wahrscheinlich noch immer in der Tradition der alten Fanzines, die – im besseren Kartoffeldruck produziert – bei Wind und Wetter vor den Stadien verkauft wurden. Zumindest dann, wenn sie nicht gerade im „Sport1-Doppelpass“ sitzen und sich mit der Runde über „Neid und Missgunst“, „Egoismus“ und weitere brennende Themen der Bundesliga austauschen. Es war sozusagen ein Heimspiel, auf das sich die 11Freunde einließen und – um es auch relativ früh zu sagen – sie haben es gewonnen. Zwar nicht mit 4:0, aber dennoch gewonnen.
Man muss sich als Leser auf den durchklingenden melancholischen Grundton der vielen Reportagen und Bilderstrecken schon einlassen, doch wer dazu bereit ist, dem fallen wunderschöne Stücke vor die Füße. Beispielsweise Hardy Grünes Erzählung aus den 1930er-Jahren, in denen in Deutschland immer mal wieder kleine, finanzstarke Dorfvereine die gerade zur ersten Blüte erwachsenen Großclubs ärgerten. „Lkw mit Anhänger“ beschreibt die erfolgreichste Phase des niedersächsischen SV Algermissen und dessen Auswärtsspiel beim Hamburger SV. Der Titel nennt das Verkehrsmittel zur größten Auswärtsfahrt des SV in die 200 Kilometer entfernte Großstadt. Rund acht Stunden pro Strecke waren die Dörfler damals unterwegs.
Rund 40 Jahre später machten sich 200 Deutsche „Aral-Fans“ (sie hatten die Reise bei einer Verlosung der Tankstellenkette gewonnen) auf zur Fußball-WM in Mexiko. Autor Alex Raack zeichnet die große Reise in Tagebuchform nach und man möchte gar nicht wissen, bei wie vielen Tageseinträgen er etwas dazu gedichtet oder zumindest geglättet hat. Es macht Spaß mit auf diesen Trip zu gehen, der in einer Zeit stattfand, als interkontinentale Fußballreisen eigentlich noch undenkbar waren. Dafür sorgen vor allem die vielen Privatfotos der Reisenden.
Leider sind nicht alle Reportagen so beschwingt zu genießen wie die beiden vorgenannten. Beinahe ermüdend ist so manches Interview mit Zeitzeugen und Edel-Kutten aus den 1960er, 70er und 80er Jahren, die früher oder später immer wieder auf Floskeln wie „damals war alles anders“ oder „so etwas gab es ja damals noch gar nicht“ zurückfallen. Gänzlich misslungen empfinde ich den Bericht über die Heyselstadion-Katastrophe, betitelt mit „Als der Fußball seine Unschuld verlor“. Bis auf die bekannte Feststellung, dass nach Heysel die Versitzplatzung in den Stadien Europas einsetzte, bleibt viel zu wenig von Titus Chalks Text im Gedächtnis haften. Das ist jammerschade, denn es hätte ein extrem bewegendes und viele Fragen beantwortendes Highlight dieser Spezialausgabe werden können.
Wie schwer es ist, von der „guten alten Zeit“ zu erzählen ohne in ein ausschließlich romantisierendes oder ausschließlich resignierendes Muster zu verfallen, zeigt sich aber besonders in Andreas Bocks Reportage „Nachkriegszeit“, die sich mit dem SV Austria Salzburg beschäftigt. Nach der Übernahme des Salzburger Erstligisten durch Red Bull gründeten Fans ihre Austria neu. Anfangs mit viel Sympathie und Erfolg, mittlerweile jedoch auf dem besten Weg zum stinknormalen Fußballclub. Ich habe ja von Haus aus ein gewisses Faible für den darbenden österreichischen Clubfußball. Doch ich bin mir sicher, dass „Nachkriegszeit“ auch ohne familiäre Wurzeln in der Alpenrepublik ein durchweg lesenswerter Text ist.
Mit 6,90 Euro ist die Spezial-Ausgabe „You’ll never walk alone“ nicht ganz günstig. Ein „Buch“ ist das A4-formatige Magazin natürlich auch nicht. Ich habe mich dennoch für eine Rezension entschieden, weil es mir alles in allem Spaß gemacht hat, die 132 nahezu werbefreien Seiten zu lesen. Auch wenn nicht jeder Text zu 100% gelungen ist (wie der über die große Zeit des SSC Neapel) entlohnen doch dann zumindest die herausragenden und auch herausragend layouteten Bilderstrecken (wie die über die große Zeit des SSC Neapel), sowie die herrlich launigen Zeichnungen und die wie immer überragenden Zitate-Sammlungen. Ein Beispiel für Letzteres gefällig?
„Two Andy Gorams! There’s only two Andy Gorams!“
Anhänger der Glasgow Rangers begrüßen ihren Keeper Andy Goram, nachdem bei ihm eine schwache Form der Schizophrenie diagnostiziert worden war.
Mein Fazit: Die 6,90 Euro – umgerechnet also ein Stadionbier und eine Parkplatzwurst – sind gut angelegt. Solltest du das Heft nicht ohnehin schon besitzen, könntest du durchaus einmal über einen Besuch beim Kiosk deines Vertrauens nachdenken. Aber bitte fix – sonst ist „Die Geschichte der Fußballfans“ vergriffen.
Das Inhaltsverzeichnis und ein paar Mini-Leseproben findest du hier
Hinweise zu den Rezensionen: Im Rahmen einer lockeren Reihe stelle ich Bücher und Filme vor, die sich mit Schalke im Speziellen oder Fußball im Allgemeinen beschäftigen. Dabei erhebe ich weder den Anspruch der Allwissenheit noch der geschmacklichen Wortführerschaft, lege aber Wert darauf, dass die Rezensionen ausschließlich meine Meinung transportieren und nicht “käuflich” sind. Verlage oder Autoren, die ihre Werke hier besprochen sehen möchten, wenden sich bitte an die im Impressum genannte Adresse. |
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7 Kommentare zu “Rezension: „11Freunde-Spezial: You’ll never walk alone“”
Kannst du etwas dazu sagen, ob in der Sonderausgabe Artikel aus dem normalen Heft recycelt wurden? Gerade der Titel des Heysel-Artikels und das Andy-Goram-Zitat kommen mir bekannt vor. Eine Wiederverwendung alter Artikel wäre natürlich schade und ein Grund, der gegen den Kauf sprechen würde, denn ich möchte nicht mit altbekanntem konfrontiert werden.
Das Andy-Goram-Zitat stammt in diesem Heft aus einer Rubrik „Die 20 fiesesten Fangesänge“. Da die 11-Freunde immer wieder ähnliche Listen in ihren Heften und online bringen, ist es gut möglich, dass das Zitat schon mal irgendwo zu finden war.
Die Artikel sind m.E. neu. Aber über die Heysel-Katastrophe hat es sicherlich schon den ein oder anderen Artikel gegeben, so dass hier nicht viel Neues zu erwarten ist (ich hab den Artikel noch nicht gelesen). In einer der letzten regulären Ausgaben ist die Hillsborough-Katastrophe vorgekommen. Vielleicht verwechselst du da was…
Wie fandest Du denn diese „Erregung“ des Bayern-Anhängers Fabian Jonas? Er schreibt darüber, wie schwer, schwerer als alle anderen, es Bayern-Fans doch haben, und wie sie leiden.
Aber in erster Linie haben sie nur an einem Tag gelitten, dem 26.05.99, genau, ManU, Solskjaer und Sheringham, blablabla. Das war’s dann auch schon mit dem Leiden. Halt, Bayernniederlagen sind immer gefühlte sieben. Er nennt das „Hundeniederlagen“. Und: „Bayern-Fans leiden – die ganze Zeit.“ Das schreibt der tatsächlich. Er kann es nur leider nicht überzeugend belegen.
Er hat sich nach meinem Empfinden um Kopf und Kragen geschrieben, was die 11Freunde-Redaktion nicht daran gehindert hat, es ins Blatt zu hieven. Ist das mit Abstand schlechteste Stück im Heft, einfach nicht ernstzunehmen, und wäre besser nicht gedruckt worden.
Aber für den Rest lohnt sich der Kauf dennoch und vielleicht auch deswegen, um sich über diesen Bayern-, äh, kaputtzulachen.
@Der Hans: Ich habe die 11Freunde zwar nicht im Abo (mein netter Kioskonkel von gegenüber soll schließlich auch etwas verdienen, wenn er schon alle zwei Jahre von irgendwelchen Arschlöchern ausgeraubt wird), aber ich bin doch ein relativ regelmäßiger Leser. Mir ist ein direktes Recycling von Artikeln nicht aufgefallen. Selbst die „fiesesten Fansprüche“ mit dem Goram-Chant sind mir wohl durchgegangen. Aber natürlich ist das Thema „Geschichte des Fantums“ eines, das sich durch die gesamte Magazingeschichte zieht. Gut möglich, dass hier der eine oder andere Autor sich dazu hat hinreißen lassen, ein bereits behandeltes Thema noch einmal neu und ohne allzu viele neue Ansatzpunkte aufzugreifen.
@Johannes: Den Bayern-Artikel habe ich schlichtweg nicht ernst genommen. Es ist der verzweifelte Versuch, den Bayern erst die Rechtfertigung von „normalen Fußballfans“ zu geben (die sollen sie gerne haben) und sie danach sogar noch zu „Über-Fans“ aufzubauen (kleiner Finger -> ganze Hand). Anstelle eines Berichts über/von Bayern-Fans hätte ich lieber etwas zu den Anhängern des TSG Hoffenheim gelesen – und zwar von denen, die bereits vor 15 Jahren am Spielfeldrand standen. Aber hier sind die 11Freunde leider (wie schon so häufig) in die „Bayern-Feindbild zieht immer“-Falle getappt. Ich gebe dir recht, dass er der sicherlich überflüssigste Artikel im Sonderheft ist.
Ich halte das Interview mit den 3 Kutten im Gegensatz zu dir für eines der Highlights des Heftes. Klar vieles schonmal gehört aber auch manch neues dabei und immer wieder interessant zu vergleichen mit den heutigen Gegebenheiten in den Stadien. Ansonsten hätte ich mir mal einen Blick auf die Fanszene von Kickers Offenbach oder Rot-Weiss Essen gewünscht um mal zu sehen wie sich eine solche Szene verändert wenn ein einst großer Club dauerhaft durch die unteren Ligen tingelt.
Wusstest Du eigentlich, dass 11Freunde Dich im aktuellen Heft zitiert?
@Stollengewitter: Da sieht man mal wieder, wie sich die Geschmäcker unterscheiden. Ich fand’s langatmig und im Unterton dann doch auch ein wenig zu selbstverliebt (<- falsches Wort, aber mir fällt gerade kein besseres ein). Was die Fanszenen der mittlerweile versunkenen Traditionsclubs angeht, bin ich wieder ganz bei dir. Das hätte auch mit rein gemusst, wobei ich – aus persönlicher Präferenz – natürlich gerne etwas über die zum Teil sehr zwiespältig zu beurteilende Szene beim SC Preußen Münster gelesen hätte.
@Johannes II: Ja, das weiß ich und ich fühle mich geehrt, auch wenn die 11Freunde das Zitat dann doch ziemlich aus dem Zusammenhang gerissen und neu zusammengestellt haben. Noch mehr geehrt fühle ich mich jedoch, dass der involvierte Österreicher im Satz danach meinem Grundgedanken im Prinzip Recht gibt (in Bezug auf: Wie vielen Regeln würde sich die Pyro-Szene unterordnen). Übrigens erfuhr ich von der Erwähnung nicht durch die 11Freunde selbst, sondern durch einen Blog-Kommentar. Aber es hat mich trotz allem natürlich gefreut, zumal die 11Freunde sogar meinen Namen richtig geschrieben haben. Das schafft noch nicht einmal das Finanzamt hier in Münster, obwohl die ständig Geld von mir bekommen 😉
[Hintergrund: Es geht um diese Erwähnung in einem Text über die generelle Möglichkeit legalisierter Pyrotechnik. Mein Text dazu findet sich hier.]