Bist du Schalke, Junge?
Da stand ich. Mit einem Fähnchen in der Hand und einer dieser Mützen auf dem Kopf, die in ihrer Urform die Klopapierrollen auf der Heckablage eines Opel Kadetts vor dem Ausbleichen schützten. Ich habe mich immer gefragt
, was die Chauffeure der Klopapierrollen durch die öffentliche Zurschaustellung derselben signalisierten. War es etwa: „Das ist mir egal, ob ich gerade im Stau stehe oder eine Fahrt ins Grüne unternehme. Wenn der Darm sich meldet, dann lege ich gepflegt eine Wurst an die Leitplanke. Da kenne ich nix. So bin ich!“ Ja, das wird die Message wohl gewesen sein.
Aber es ist auch egal. Es geht hier nicht um die Klopapierrolle, sondern um diese unförmige Art von Mützen, die man damals auf dem Schützenfest an der Bude schießen konnte. Zehn zerschossene Sterne. Ich weiß es noch. Pro Schuss bezahlte man 40 Pfennig. Für fünf bis sechs Mark hatte man sich seine Mütze zusammengeschossen. Ein scheußliches Teil. Eine Malerkappe aus dem Baumarkt, aber eben in Blau und Weiß. Obendrauf ein riesiges Schalke-Wappen. Auf der umlaufenden Krempe blassblau „FC Gelsenkirchen-Schalke 04“ in Helvetica Bold. Heutzutage würde es ein solcher Artikel nie durch die Endkontrolle der Marketingabteilung eines Bundesliga-Clubs schaffen. Damals war das egal. Damals existierten offizielle Fanartikel und Fälschungen friedlich nebeneinander.
Um die Mütze geht es allerdings auch nicht und erst recht nicht um die Fahne mit der Mini-Schwenkfläche. Die hatte ich mir vor einem 0:0 gegen Eintracht Frankfurt im Mai 1988 gekauft und sie kostete weitaus mehr als die Mütze, war aber wenigstens „offiziell“, auch wenn das – wie gesagt – damals noch keinen kümmerte.
Scheußliche Mütze und Mini-Fähnchen – das waren meine Bekenntnisse zum FC Schalke. Damit war ich fast schon over-dressed, denn entweder man trug Vollkutte oder zivil. Naja, und die Lütten, die trugen Mütze und Fähnchen.
Mit Mütze und Fähnchen stand ich im Spätsommer 1988 in Gelsenkirchen-Rotthausen an der Bushaltestelle Mechtenbergstraße, Ecke Bromberger Straße. In der Tasche zehn Mark von Papa für die Busfahrt, die Eintrittskarte und eine Erbsensuppe im Stadion. Während ich zum Fußball fuhr, malochte Papa bei Oma und Opa im Garten. Das war ein Ritual. Alle zwei Wochen setzten sich Papa und ich morgens im Sauerland ins Auto und fuhren zu Opa und Oma nach Rotthausen. Während er dann die Hecken im riesigen Garten schnitt, den Rasen mähte und sich von Opa dessen verzweifelte Versuche des Spargelanbaus erklären ließ, machte ich mich auf den Weg ins Parkstadion. Mit 13 oder 14 fing das an. Mit 15 war selbst für mich als Sauerländer Landei der Weg ins Stadion und zurück so selbstverständlich wie der tägliche Marsch mit der Milchkanne zum Bauern am anderen Ende des Dorfes.
Wie ich da so stand und auf dem Bus wartete brauste ein goldener Mercedes vorbei. Eine richtige Arschproletenkarre, mit Frittentheke, getönten Scheiben und vier schwarzen Walzen. So was sah man damals bei uns im Dorf nicht. Aber in der Großstadt, na klar, da gab es sowas. Ich weiß noch, dass ich in einem Gefühlszustand zwischen Erheiterung und Ehrfurcht dem Boliden hinterher glotzte, als dieser unvermittelt quietschend abbremste und dann im Zeitlupentempo zurücksetzte.
Wohin bloß? Hinter mir war die Eingangstür der Trinkhalle, aber da musste man etwas kaufen und dann wäre die Erbsensuppe ausgefallen. Außerdem könnte ja auch der Bus gleich kommen. Überhaupt: Lohnt es sich noch wegzulaufen, wenn sich die Fahrertür des Autos bereits öffnet? Der in meiner Erinnerung mindestens zwei Meter große und ebenso breite Kerl im Muskelshirt, der sich böse blickend vor mir aufbaute, nahm mir die Entscheidung ab. Es war zu spät.
„Du Schalke?“ brüllte er mich an. Ich zuckte mit den Schultern deutete verlegen auf Fähnchen und Kappe. „Schalke ist scheiße!“, blaffte der Gigant. „Fußball ist scheiße! Das ist kein Sport! Kannste dir nicht ankucken, so scheiße ist das. Tennis ist geil. Boris Becker ist geil! Fußball ist scheiße. Schalke ist richtig scheiße!“
Ich fand es ja nett, dass mich der Riese an seinen Ansichten teilhaben ließ und nutze die Zeit, um die Stationen meines jungen Lebens an mir vorbeiziehen zu lassen. Allein der Sinn hinter der Standpauke erschloss sich mir nicht. Soll er mich doch einfach so ins Auto zerren und rituell schächten, denn genau darum ging es ja offensichtlich. Aber vorher noch volllabern – was soll so was? Man las übrigens auch damals schon schlimme Storys von Landeiern, die in der Großstadt entführt wurden und sich nur Tage später am Bahnhof Haschisch spritzten.
Während der Riese bölkte und ich mir die Frage stellte, für wie viele Haschisch-Spritzen meine zehn Mark ausreichen werden, sah ich seine Bratpfannen-Hand in die Hosentasche gleiten. Als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein zerknittertes Stück Papier in der Hand. „Hier! Nimm das! Ist eine Freikarte. Ist vom meinem Chef. Der findet Fußball auch scheiße. Der will sie nicht. Ich will sie auch nicht. Ich werfe sie gleich weg, wenn du sie nicht nimmst. Jetzt nimm endlich, Junge!“ Dann umklammerte er meinen Arm, riss ihn in seine Richtung, presste mir das Ticket in die klammen Finger und faltete sich wieder in den goldenen Benz. Bevor er die Tür zuknallte blickte er noch einmal zur Seite, fixierte mich scharf und schüttelte beinahe mitleidig den Kopf: „Du bist echt Schalke, Junge? Du hast’n Scheiß-Leben! Tu dir’n Gefallen und kuck‘ Tennis! Das ist geil.“ Dann war er verschwunden, ich winkte ihm noch nach, atmete durch und stand wieder alleine in der menschenleeren Mechtenbergstraße. Keine Minute später kam der Bus.
Ich werde manchmal gefragt, warum ich Schalke-Fan geworden bin. Eine saublöde Frage, die so nur Nicht-Fußballfans stellen können. Ich behelfe mir dann mit den üblichen Storys von „reingeboren“, „mit Papa im Stadion“, „zelebriertem Außenseitertum in der Schule“ und so weiter. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht mehr. Doch ich weiß, warum ich Schalke-Fan geblieben bin. Erlebnisse wie dieses im Spätsommer 1988, die ohne jeden Anlass immer mal wieder vor meinem inneren Auge aufblitzen, haben daran einen Anteil.
Kuckt eigentlich noch irgendjemand Tennis?
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Foto: Bei der Oma in Gelsenkirchen-Rotthausen. Noch lange bevor aus dem Jungen Schalke wurde. Aber immerhin in Rotthausen.
Abgelegt unter Leben analog,Schalke
was hast du mit dem anteil der 10 d-mark gemacht, der als ausgabe für die eintrittskarte kalkuliert war?
btw. tennis ist out, spätestens seit typen wie john mcenroe, jimmy conners, björn borg und ivan lendl aufgehört haben.
Sehr nette Geschichte. BTW: Die Klohrolle im Auto bedeutet übrigens Tennis-Fan 🙂
Schöner Text! Und vor allem schöner Schlafblouson. :-p
[…] für Berichte über das kommende Duell zwischen Schalke und Wolfsburg. Matthias in der Weide (Schalkefan.de) lässt indes seine Vergangenheit als Schalke-Fan neu […]
Kalle Grabowski war Tennisfan? Sachen gibts…
Da fehlte ja nur noch der von Oma selbst gestrickte 2 Meter Schal, wo man als kleiner Dötz immer drauf trat..:-)
und wann folgt das 2. Kapitel des Buches „Schalke in der Weide“?
Schön geschrieben.
Danke für die Großstadt…
und vielen Dank für die Geschichte.
Ich hatte noch ne Armbinde? Schweißband? mit langen blau-weißen Fransen/Fäden dran. Merchandising is anders.
Die Typen Nigbur,Fischer,Kuzorra u 100 weiß ich wer noch alles
ham auch aufgehört o Leben zum Teil nicht mehr .Aber ich geh
immer noch hin,aber manchmal frage ich mich schon warum.
Die Kohle macht die Spieler immer gleicher ,in ihrem Denken u
Handeln.(ich glaube ich würde das drumherum mehr vemissen,
wie unseren Fußball zurzeit).
cooles outfit,
da werden erinnerungen wach und fischer steigt nochmal in die höhe…
bwg
erik
Ich glaube, so etwas wie das hier meinte heinzkamke, als er davon sprach, dass man mehr Geschichten schreiben solle. Dem würde ich mich anschließen, bzw. diesen Text als eine der Antworten auf diese Forderung ansehen. Ich habe es sehr genossen, meinen Blick über ihre Buchstaben gleiten zu lassen, Danke dafür.
Wunderbare Geschichte!
Herrlich… 😉
… Arschproletenkarre…, …. rituell schächten… :)))
Dein Fazit ist exakt richtig, ich weiß auch nicht mehr genau warum ich Schalker gworden bin (knap 200km ein Weg) Aber diese kleinen, persönlichen Anekdoten bestätigen mir immer wieder eine der wichtigsten und richtigsten Entscheidung im Leben getroffen zu haben. Und mein Dank gilt diesbezüglich meinem viel zu früh verstorbenem Vater – eine bekennende Zecke – der mir als Zwölfjährigem damals, Ende der 70er, erstmalig erlaubt hat, „allein“ mit einem 18jährigem Freund (heute Patenonkel meines Sohnes) ins Parkstadion zu pilgern. Der Anfang eines Rituals zu den Heimspielen der Königsblauen. Seitdem sind „wir alle“ wohl schon des Öfteren für den Nachwuchs ein Teil ihrer eigenen, kleinen Anekdoten geworden… ;o)
Königsblau im Herzen!
Gutgehn und Glück auf!
Wenn irgendjemand wie die Chinesen abkupfert, dann die Lüdenscheider. Wer hatte denn die Idee mit polnischnamigen Spielern die deutsche Meisterschaft zu gewinnen?
Recht hast du, oder weiß hier irgendwer ohne zu googlen die ersten drei der Damentennisrangliste. ( Hatte man zu Zeiten von Graf, Evert,Navratilova,Austin,Sanchez,Seles alles im Kopf )
[…] was ich neulich bei jemandem gelesen hab’? “Fußball ist scheiße! Das ist kein Sport! Kannste dir nicht ankucken, […]
Matthias, so eine Mütze hab ich immer noch 🙂 Aufgesetzt würde die aber nur noch zu ganz ganz besonderen Anlässen 🙂 Aber seien wir ehrlich: die sahen zwar schei**e aus, aber so viel schöner sind die derzeit aktuellen Depp-Caps (auch Baseballkappen genannt) nun auch nicht.
Tennis fand ich übrigens immer total öde 🙂
Vielen lieben Dank für das positive Feedback auf diese kleine Geschichte. Ich weiß vorher nie, ob und wie so ein Experiment bei euch Lesern ankommt und war echt überwältigt, als mich in meinem Urlaub in Österreich so viele positive Kommentare hier im Blog und via Twitter erreichten. Dankeschön!
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