Der, der niemals da war
Im Rahmen einer kleinen Serie veröffentliche ich Auszüge aus einer rund 36 Jahre alten Kladde einer damals jugendlichen Anhängerin und nehme dies zum Anlass, selbst ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen. Jeder Leser dieser Seite ist eingeladen, es mir gleichzutun.
Francisco Marinho lebt heute zur Untermiete in Edgar Davids Hertener Doppelhaushälfte und hat Zugriff auf das Girokonto des extravaganten Brillenträgers bei der Stadtsparkasse Gelsenkirchen.
Der Titel „FC Schalke 04 – mit Bildern von Spielern und Texten“, den unsere junge Chronistin ihrem Werk vor rund 35 Jahren gab, deutet bereits darauf hin, dass die bildliche Darstellung der Fußballakteure einen großen Raum einnimmt. Bei Francisco Marinho, Schalkes Top-Star im Frühjahr 1975, hat sie sogar gänzlich auf eigenes Textwerk verzichtet. Zu ihrer Entschuldigung muss man jedoch anführen, dass Marinho das königsblaue Dress nur im Rahmen vereinzelter Trainingseinheiten trug. Denn in der Tat war der brasilianische Star aus der WM-Mannschaft von 1974 der Mann, der niemals da war.
Marinho, ein 22-jähriger Verteidiger mit Offensivdrang, hatte beim Weltturnier auf sich aufmerksam gemacht. Besonders großen Gefallen schien Schalkes damaliger Präsident und 1958er-Meisterspieler Günter „Oskar“ Sieber an dem blonden Adonis gefunden zu haben. Denn Oskar setzte im darauffolgenden Jahr alles daran, Schalke seinen ersten Brasilianer zu spendieren. Ein teures Vorhaben: Rund 1,4 Millionen D-Mark sollte allein die Ablösesumme an Marinhos Heimatverein Botafogo kosten. Dazu gesellte sich ein Handgeld in Höhe von 240.000 D-Mark an den Spieler, der sich seine Dienste darüber hinaus noch nicht einem Monatssalär von 20.000 Mark bezahlen lassen wollte. Alles zusammen also unbeschreiblich viel Geld in einer Zeit, in der der Fußball noch nicht einmal ansatzweise ahnte, welche Summen mit ihm drei Jahrzehnte später umgesetzt werden.
Günter Siebert wollte den Transfer dennoch stemmen und zählte auf die Begeisterung der Masse. Marinho, der monatelang durch die deutsche Presse gegeistert und von der Jugendzeitschrift „Bravo“ für seine Leistungen bei der WM – aber auch für sein Aussehen – mit dem „Bronzenen Otto“ ausgezeichnet worden war, sollte gegen den Willen des Trainers Ivica Horvat und gegen das Votum der übrigen Vereinsoberen verpflichtet werden. Siebert erinnerte sich an die noch taufrische „Bongartz-Mark“ – einem Zuschlag auf die Eintrittspreise, mit dem Schalke 1974/75 den Transfer von „Spargeltarzan“ Hannes Bongartz von Wattenscheid nach Gelsenkirchen finanzierte – und ließ im Rahmen des Bundesliga-Heimspiels gegen den FC Bayern München „Wahlurnen“ aufstellen. An die angereisten Fans wurden Stimmzettel ausgegeben, auf denen sie notieren sollten, ob Marinho verpflichtet und dafür ein Zuschlag auf die Eintrittspreise erhoben werden soll. Wie es der Zufall wollte, saß der blonde Brasilianer an diesem Tag neben Oskar auf der Ehrentribüne und nahm auf dem Rasen des Parkstadions den „Bronzenen Otto“ entgegen.
Laut Günter Siebert beteiligten sich an dieser basisdemokratischen Befragung rund 70.000 Zuschauer. Wie viele es tatsächlich waren, kam nie heraus. Denn am nächsten Tag, als man die Urnen eigentlich leeren und das Ergebnis auszählen wollte, waren diese plötzlich leer. Voller Panik soll Siebert mit ein paar Gefolgsleuten zur nächsten Mülldeponie gefahren sein, um zu schauen, ob die Müllabfuhr das Papier versehentlich abtransportiert hat. Vergeblich – die Stimmzettel blieben für immer verschollen.
Ein paar hundert Exemplare tauchten dann doch noch in einem Pappkarton auf. Das Votum auf diesen Zetteln fiel exakt so aus, wie man es von Schalke erwartet: Zwar wollte die Mehrheit Marinho im Schalker Kader sehen, eine Eintrittspreiserhöhung wurde jedoch abgelehnt. Letztendlich scheiterte der Wechsel jedoch nicht an der mangelnden Opferbereitschaft der Fans, sondern am Verwaltungsrat. Er schob den Plänen einen Riegel vor und veranlasste damit zwei Personen zu Kletterpartien: Günter Siebert kletterte auf die Palme, Francisco Marinho auf die Flugzeug-Gangway. Er wurde nie mehr auf Schalke gesehen.
Und was lernen wir aus dieser Episode? Vermeintlich sichere Wechsel sind auf Schalke auch schon lange bevor Edgar Davids sich im Ruhrgebiet Doppelhaushälften kaufte und Konten bei diversen Stadtsparkassen eröffnete geplatzt! Irgendwie tröstlich…
Ein Nachtrag: Was Schalke nicht schaffte, schaffte fast 15 Jahre später der völlig zurecht unbekannte BC Harlekin Augsburg. Im Spätherbst seiner Karriere wechselte Marinho zu diesem – von einem Spielhallen-Unternehmer protegierten – Verein, der mit Hilfe von Altstars aus der Kreisklasse in die Bundesliga durchmarschieren wollte. Zeitzeugen berichten, es sei ein trauriger Anblick gewesen.
Und falls du dich jetzt fragen solltest, warum ich diese olle Kamelle aus der Kladde ausgerechnet jetzt veröffentlicht habe? Günter „Oskar“ Siebert feiert heute seinen 80. Geburtstag! Herzliche Glückwünsche nach Gran Canaria.
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2 Kommentare zu “Der, der niemals da war”
verblüffend – gerade heute früh las ich über den BC Harlekin Augsburg, eine „frühe TSG Hoffenheim“ sozusagen, und staunte da schon über den Marinho-Wechsel. Der Spielhallenunternehmer gab seinen Versuch, Harlekin ganz nach oben zu führen, bald auf – und stieg beim FC Augsburg ein. Sozusagen sieht man sich also immer, äh, zigmal 🙂
Schöne Geschichte.
Natürlich schon oft gehört, macht aber immer wieder Spaß, diese „Skandälchen“ nochmal durchzulesen.