Schalke hat Respekt verdient
Am Tag nach dem desillusionierenden 0:2 gegen Manchester United traute ich meinen Augen und Ohren nicht. Allenthalben wurde Schalke Versagen vorgeworfen. Mit offener Häme stellten Medien und Fußballkenner fest, dass Schalke schlechter war als Manchester. Und sie taten es mit einer solchen Inbrunst, dass man tatsächlich annehmen kann, es sei eine Überraschung, eine kleine Sensation sogar, wenn ein durchschnittlich aufgelegtes Schalke gegen Manchester United in Top-Form verliert. Natürlich bin auch ich immer noch ein wenig traurig darüber, dass es am Dienstag kein Fußball-Festtag a la Lyon, Valencia oder Mailand wurde. Aber ich finde, dass man bei aller Enttäuschung die Kirche im Dorf lassen muss. Wenn eine 0:2-Heimniederlage nach suboptimaler Leistung gegen einen haushohen Favoriten bedeutet, dass die unterlegene Mannschaft sich direkt von allen Spielbetrieben abmelden muss, dann tut es mir leid um den spanischen Fußball. Denn ich fand eigentlich immer, dass Real Madrid eine gewisse Daseinsberechtigung hatte.
Dass die englischen Boulevard-Blätter nach einem gewonnenen Spiel gegen eine deutsche Mannschaft gleich wieder die Panzer zerschellen und die Feinde zu Staub zerfallen lassen, ist ja nichts Neues. Und natürlich schwelgen auch die seriösen Medien auf der Insel in erster Linie im Glück darüber, dass „ihre Mannschaft“ den Gegner dominiert hat. Schalke hat sich dennoch durch die bemerkenswerte Champions-League-Saison Respekt erarbeitet – auch und gerade in England.
Erst heute stolperte ich über einen wunderschönen Artikel aus einem BBC-Blog, in dem Korrespondent Dan Roan beinahe schwärmerisch Schalke aus einer Perspektive beschreibt, die uns deutschen Fans zum Glück fremd ist, weil wir vieles als selbstverständlich erachten, was alles andere als selbstverständlich ist. Zugegeben, der Artikel erschien vor dem Spiel. Aber auch nach dem Spiel wird Dan Roan seine Meinung nicht um 180 Grad geändert haben. Hier der Artikel in (freier) Übersetzung.
Der Club, der auf der Stärke seiner Fans gegründet ist
Mit einem Champions-League-Halbfinale vor der Brust würden sich die meisten Clubs in eine Festung verkriechen, um sich ungestört vorbereiten zu können. Man würde die Köpfe zusammenstecken, die Zäune erhöhen und die Zugbrücke hochziehen – nicht so bei Schalke 04.
An einem wunderschönen Frühlingstag im Ruhrgebiet hat Schalke vor dem vielleicht wichtigsten Spiel der Vereinsgesichte seine Türen und Tore weit für die Fans geöffnet. Rund 2000 Anhänger des wohl populärsten Clubs in Deutschland mit seinen 94.000 zahlenden Mitgliedern und mehr als 1.300 Fanclubs weltweit – zwei davon in England – waren gekommen, um sich das Training anzusehen. Dabei hatte der Tag doch eigentlich eine schlechte Nachricht für die Fans parat. Der geliebte Sohn der Stadt, Torhüter Manuel Neuer, hatte sie gerade via Facebook darüber informiert, dass er seinen Vertrag nicht verlängern wird. Nach 20 Jahren wird er gehen – höchstwahrscheinlich zum FC Bayern. Doch selbst das konnte die Stimmung an diesem Tag nicht verderben.
Nur ein paar Meter vom Trainingsplatz entfernt genießen die Fans ihr Mittagessen im vereinseigenen Restaurant, während die Spieler nach dem Training auf dem Weg zu den Umkleidekabinen locker mit anderen Anhängern plaudern und fleißig Autogramme schreiben. Das alles ist nichts Besonderes. So ist das eben auf Schalke.
„Trainingseinheiten sind hier eigentlich immer öffentlich, anders als in England“, erklärt mir Schalkes Chefcoach Ralf Rangnick später, als ich mit ihm in der Maßstäbe setzenden 61.000 Zuschauer fassenden Arena des Clubs stehe, wo modernste Technik und günstige Tickets für eine der besten Atmosphären im Weltfußball sorgen. „Wenn wir die Fans nicht an uns heranließen, wären sie unglücklich.“ Auf Schalke wird auf die Befindlichkeit der Fans geachtet.
Anderswo wird weniger Wert auf die Stimmungslage der Fans gelegt. Dort schottet man sich vor denjenigen ab, die den Club doch eigentlich nur unterstützen wollen. Zum Beispiel in Carrington, dem Trainingsgelände von Manchester United, Schalkes Gegner im Halbfinale. Wie bei eigentlich allen Clubs in der Premier League weisen hier Schilder darauf hin, dass die Spieler auf keinen Fall Autogramme schreiben werden, und halten Hochsicherheitsmaßnahmen Außenstehende davon ab, in Sichtweite des eigentlichen Trainingsplatzes zu gelangen. Der Kontrast zu Schalke könnte nicht größer sein.
Wie Manchester war auch Gelsenkirchen einst ein Zentrum in einer Kohle-und-Stahl-Region. Die Zechen und Stahlwerke haben die Stadt der tausend Feuer jedoch längst verlassen. Geblieben ist eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Bis heute hat sich Schalke jedoch den Arbeiterklassen-Charakter bewahrt. Schalke ist ein Club, der auf der Kraft seiner Anhänger gegründet ist.
Ein offizieller Vertreter der Fans besetzt einen permanenten Sitz im Aufsichtsrat und kann dort entscheiden, ob der Club Transfers tätigen darf, die einen Betrag von 300.000 Euro übersteigen. Als Ralf Rangnicks Vorgänger Felix Magath einst versuchte, dieses Vetorecht zu kippen, und zu allem Überfluss auch den Fanbeauftragten des Clubs entlassen ließ, waren seine Tage auf Schalke gezählt. Denn als er die Fans verloren hatte, wurde der Mann, der im Vorjahr mit Schalke die Qualifikation für die Champions-League gesichert und den Verein bis ins Viertelfinale geführt hatte, entlassen.
Stuart Dykes kam in den 1980ern nach Deutschland, verliebte sich in Schalke und arbeitet jetzt als Übersetzer für den Club sowie als Berater für verschiedene Fangruppierungen. „Schalke ist mehr als ein Club. Schalke, das sind die Fans. Schalke ist die Stadt“, erklärt er. „Ich kann mir keinen anderen Club in Europa vorstellen, der so sehr in der Gesellschaft verwurzelt ist. Schalke ist einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Die ganze Region hängt regelrecht von diesem Verein ab. Der Club befindet sich zu 100 Prozent im Besitz seiner Fans. Die Spieler besuchen die Fanclubs im gesamten Land. Gleichzeitig werden die Fans dazu eingeladen, ihren Urlaub zusammen mit der Mannschaft in deren Trainingslager zu verbringen.“
Dykes erklärt mir, wie es dem Club erst nach endlosen Verhandlungen mit den Fans erlaubt wurde, die Preise für die Eintrittskarten zu erhöhen. Man einigte sich schließlich darauf, den Preis für die Stehplätze von 13 auf 15 Euro anzuheben. Dauerkarten kosten nur knapp über 300 Euro und gewähren am Spieltag sogar die kostenlose Teilnahme am öffentlichen Personennahverkehr in einem Umkreis von etwa 50 Kilometern rund um Schalke. „Früher war ich Anhänger von Manchester United. Doch dann kamen die Glazers und kauften den Club – da war das Thema für mich durch“, erzählt Stuart Dykes. „Seitdem war ich nicht mehr in Old Trafford. Das Rückspiel mit Schalke wird mein erster Besuch seit vielen Jahren sein. Und ich will, dass Schalke gewinnt.“
Spätestens Schalkes außergewöhnliche 5:2-Demontage von Inter Mailand im Hinspiel des Viertelfinals war der Moment, als der Club zum Überraschungsei des diesjährigen Wettbewerbs mutierte. Als dann im Rückspiel, das Schalke ebenfalls 2:1 gewann, der sonst doch eher so reservierte Raúl in die Fankurve stürmte, sich ein Mikrophon schnappte und die Feierlichkeiten dirigierte, war klar, dass der Stürmer hier just in diesem Moment mehr für seine eigene Legendenwerdung getan hatte, als es seine 71 Tore in europäischen Wettbewerben zuvor vermochten.
Doch Schalke ist nicht frei von Problemen. Auch wenn man in diesem Jahr Europa im Sturm nahm und in das nationale Pokalfinale einzog, täuscht das nicht darüber hinweg, dass der Verein seit 1958 keine nationale Meisterschaft mehr gewonnen hat. Der aktuelle Erfolg des Erzrivalen Dortmund, der die Liga mit fünf Punkten anführt, lässt das eigene langjährige Versagen da noch viel schwerer im Magen liegen.
Vor ein paar Jahren war man beinahe pleite. Noch heute ist Schalke hoch verschuldet und steht unter dauerhafter Beobachtung der DFL. Ein Multimillionen-Euro-Sponsoring-Vertrag mit dem umstrittenen Gasriesen Gazprom sorgte für zusätzliche Irritationen unter einigen Fans, die der Ansicht sind, dass diese Partnerschaft nicht zu den Werten passt, die Schalke vertritt. Und zu allem Überfluss fehlen immer noch sieben riesige Segmente der Arena-Dachkonstruktion, nachdem diese im vergangenen Winter unter der Last des Schnees eingerissen waren.
Doch das alles kann nicht den Stolz und den Optimismus trüben, den Schalkes außergewöhnliches europäisches Abenteuer in dieser Stadt im strukturellen Wandel ausgelöst hat. Das Original unter Deutschlands Fußballclubs wird seinen stolzesten Tag genießen.
Hochinteressant sind übrigens auch die Kommentare zu diesem Blog-Artikel, die ich jetzt allerdings nicht übersetze. Vor allem deshalb, weil ich es nicht über das Herz bringe, die verzweifelten Versuche von Anhängern eines bösennotierten Konzerns und diverser Kapitalgesellschaften, sich mit Schalke auf eine Stufe und sogar noch darüber zu stellen, einer breiteren Lächerlichkeit auszusetzen.
Dass auf Schalke in den letzten Jahren und Jahrzehnten einiges falsch gelaufen ist, ist unbestritten. Der Dienstag war jedoch alles andere als ein Fehler und wir sollten uns das Erlebnis „Champions-League-Halbfinale“ nicht nachträglich selbst kaputtnörgeln. Den größten aller möglichen Fehler hat Schalke bislang überdies vermeiden können. Möge uns der Fußballgott helfen, dass dies noch sehr lange so bleibt.
Mindestens noch weitere 107 Jahre!
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2 Kommentare zu “Schalke hat Respekt verdient”
Sehr guter Beitrag, Matthias. Genau so habe ich es auch gesehen, die Spielmoderation sowohl bei Sky als auch bei sat1 überschlug sich beim Schlechtreden unserer Truppe! Das Boulevard-geschmiere interresiert mich eh nicht. Ich habe gestern unter der Ãœberschrift „Honour to whom honour is due!“ folgendes geschrieben: „ManUnited hat großartig aufgespielt. Es macht Spaß, ihnen zuzuschauen (wenns nicht gerade gegen unseren S04 geht). Es war nicht viel zu holen gestern Abend, ein wenig forscher hätte unser Auftritt dennoch sein dürfen! Aber seis drum. Wir werden unsere Farben auch in der nächsten Woche auf der Insel wieder mit voller Leidenschaft vertreten! Und wir werden letztendlich nicht traurig sein, wenn diese großartige CL-Saison dann aller Voraussicht nach enden wird. Sondern wir werden froh und stolz sein, dass wir dies erleben durften. Für immer Schalke 04!“
So ist es und so wird es ewig sein! Glück auf… 🙂
Sehr schöner Beitrag, interessanter Artikel, und Recht hast Du! Was da wieder teilweise an Schalke-Bashing abging, ist echt langsam nicht mehr feierlich.
Aber wie heißt es so schön: Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten! Und das scheint meiner Meinung nach oft den Ursprung im Neid zu haben.